Psychiater über Otrovertierte

„Manche Leute gehen mit einem Alien-Gefühl durchs Leben“

Oft ist in der Psychologie von Introvertierten und Extrovertierten die Rede. Psychiater Rami Kaminski will einen dritten Typus identifiziert haben.

  • Tudsamfa@lemmy.world
    link
    fedilink
    arrow-up
    23
    ·
    edit-2
    13 days ago

    “Dritter” Persönlichkeitstyp

    Ignorieren wir einmal, dass Persönlichkeitstheorie schon längst weiterentwickelt wurde, und “introvertiert” und “extrovertiert” nicht als 2 Schubladen, sondern heute häufig als ein weiteres Spektrum gesehen werden. Das bedeutet es ist normal, sich in verschiedenen Situationen anders einzuordnen, oder auch sich irgendwo dazwischen zu sehen. Das wurde schon als “ambivertiert” bezeichnet, was wohl am ehesten den Titel verdient.

    Und selbst dann: Ich sehe nicht, wieso das ein eigener Typus sein soll, der im Gegensatz zu den anderen beiden steht. Kann doch genauso gut “introvertiert & otrovertiert” sein was die Leute in den Beispielen des Artikels beschreibt.

    • HaraldvonBlauzahn@feddit.org
      link
      fedilink
      arrow-up
      5
      arrow-down
      1
      ·
      edit-2
      13 days ago

      Und selbst dann: Ich sehe nicht, wieso das ein eigener Typus sein soll, der im Gegensatz zu den anderen beiden steht.

      Kannst Du diese Einschätzung an konkreten Aussagen im Artikel fest machen? Da wird ja schon begründet, warum Kaminski eine dritte Kategorie für sinnvoll hält. Aus dem taz-Artikel:

      Rami Kaminski: Man könnte diese Leute als freiwillige Außenseiter bezeichnen: Sie hegen eine tiefe Skepsis gegen Gruppenbildungen jeglicher Art und halten sich davon fern. Es ist ein Phänomen, das ich in meiner Praxis seit Jahrzehnten beobachte: das Fehlen eines Gemeinschaftssinns. Die Unfähigkeit, sich irgendeiner Gruppe zugehörig zu fühlen, sei es einer Freizeitclique, dem Bürokollegium oder, in großem Maßstab, einer Nation. Dieses Merkmal findet sich in allen Altersklassen, Geschlechtern und Ethnizitäten, egal ob arm oder reich. Die Betroffenen kommen sich in Gruppen stets wie Beobachter oder Besucher vor. Manche sagen auch, sie gehen mit einem Alien-Gefühl durchs Leben, immer mit dem Eindruck, nicht richtig dazuzugehören. Und eigentlich auch gar nicht dazugehören zu wollen.

      Das kann man glaube ich nicht als “Introvertiertheit” bezeichnen. Jedenfalls habe ich Introvertiertheit noch nie so beschrieben gesehen.

      • Tudsamfa@lemmy.world
        link
        fedilink
        arrow-up
        8
        ·
        13 days ago

        Kann ja existieren und eine eigene Definition haben, dagegen will ich ja nichts gesagt haben.

        Ich weiss nur nicht, warum das im Gegensatz zu introvertiert oder extrovertiert stehen soll. Der Artikel impliziert ja 3 Kategorien: “Introvertiert ODER Extrovertiert ODER Otrovertiert”, ich bin der Meinung, so wie das beschrieben ist, geht ja eher 4 Kategorien: “(Introvertier und Otrovertiert) ODER (Introvertiert und nicht Otrovertiert) ODER (Extrovertiert und Otrovertiert) ODER (Extrovertiert und nicht Otrovertiert)”.

        Fehlendes Gruppengefühl mag man eher zu einer Seite des Spektrums zuordnen, aber steht ja nicht im Gegensatz zu, vereinfacht, “viele schwächere Kontakte -” oder “wenige starke Kontakte” pflegen.

        • HaraldvonBlauzahn@feddit.org
          link
          fedilink
          arrow-up
          3
          ·
          edit-2
          12 days ago

          Ich weiss nur nicht, warum das im Gegensatz zu introvertiert oder extrovertiert stehen soll.

          Ich denke, dass die “Ausrichtung” dieser Dimensionen letztlich nur aus empirischen Daten zu beantworten ist. Wenn Leute, die nach Testscores stark “otrovertiert” sind, regelmäßig sehr geringe Testscores sowohl für “introvertiert” als auch für “extravertiert” haben, dann kann man sagen, dass dies eine eigenständige, sich gegenseitig ausschließende Ausrichtung ist.

          Wenn umgekehrt hohe Scores für “Otrovertiertheit” mit 50/50 Wahrscheinlichkeit mit üblichen Scores für sowohl Intro- als auch Extravertiertheit zusammen fallen, dann kann man das Merkmal als unabhängig von dieser Achse, also Orthogonal betrachten.

          Merkmale können auch korreliert sein, wie ADHS und Autismus, also relativ häufig gleichzeitig auftreten.

          Und schließlich könnten diese Persönlichkeitseigenschaften theoretisch auch direkt z.B. mit Introvertiertheit zusammenhängen, also quasi als bisher unerkannte Begleiterscheinung.

          Ausgehend von psychometrischen Tests gibt es da statistische Verfahren wie ANOVA, mit denen man sehr wohl halbwegs objektive Aussagen machen kann.

          Allerdings gibt es bei der Beurteilung der Unabhängigkeit nun das methodische Problem, dass die bestehenden Klassifikationen die Existenz einer weiteren Kategorie erst einmal gestatten müssen. Wenn z.B. alles, was nicht introvertiert ist, automatisch in der extravertierten Klasse landet, weil beide schon als gegenseitige Gegensätze gedacht sind ohne ein erlaubtes Drittes, könnten Personen, die in Wirklichkeit otrovertiert sind, als extravertiert klassifiziert werden.

          Die Kategorien und daraus abgeleiteten Tests beeinflussen also schon die Beobachtungen und möglichen Schlüsse.

          Das ist ein grundsätzliches Problem, das es auch in exakten Wissenschaften gibt. Der Physiker Sir Arthur Eddington hat diesen Sachverhalt einmal mit der Metapher “Das Netz des Physikers” benannt: Wenn ein Physiker z.B. im Bodensee Fische fängt mit einem Netz, das 10 Zentimeter grosse Maschen hat, wird er, auch wenn es kleine Fische gibt, keine Fische entdecken, die kleiner als 10 Zentimeter sind - weil das Netz sie nicht fangen kann. Unsere Konzepte und Methoden beeinflussen also bereits unsere möglichen Beobachtungen.

      • Don Piano@feddit.org
        link
        fedilink
        arrow-up
        2
        ·
        13 days ago

        Klingt konzeptuell erstmal orthogonal, von der Bewchreibung her, wieso sollte das auf die intro-extra Achse?

    • HaraldvonBlauzahn@feddit.org
      link
      fedilink
      arrow-up
      2
      ·
      edit-2
      12 days ago

      Und selbst dann: Ich sehe nicht, wieso das ein eigener Typus sein soll, der im Gegensatz zu den anderen beiden steht.

      Gute Frage.

      Wenn man diese Definition von Introvertiertheit in den Worten des Psychiaters C.G. Jung, der den Begriff begründete nimmt, ist das was in dem taz Artikel beschrieben wird, vielleicht, anders als ich dachte, schon darin enthalten:

      He holds aloof from external happenings, does not join in, has a distinct dislike of society as soon as he finds himself among too many people. In a large gathering he feels lonely and lost. The more crowded it is, the greater becomes his resistance. He is not in the least “with it,” and has no love of enthusiastic get-togethers. He is not a good mixer. What he does, he does in his own way, barricading himself against influences from outside. He is apt to appear awkward, often seeming inhibited, and it frequently happens that, by a certain brusqueness of manner, or by his glum unapproachability, or some kind of malapropism, he causes unwitting offence to people…

      For him self-communings are a pleasure. His own world is a safe harbor, a carefully tended and walled-in garden, closed to the public and hidden from prying eyes. His own company is the best. He feels at home in his world, where the only changes are made by himself. His best work is done with his own resources, on his own initiative, and in his own way…

      Crowds, majority views, public opinion, popular enthusiasm never convince him of anything, but mere make him creep still deeper into his shell.

      Nur: Ich habe nicht den Eindruck, dass man heutzutage selbst starke Introvertiertheit noch so definiert. Was der Begriff heute meint, scheint doch deutlich anders zu sein.